Legal Tech Symposium Berlin

Wird Legal Tech die Arbeit der Justiz in Zukunft erleichtern oder ersetzen?

Von Markus Weins

Die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung veranstaltete in Zusammenarbeit mit den Deutschen Anwaltverein am 23.11.2018 das Symposium „Legal Tech und die Justiz – Sind Algorithmen die Richterinnen und Richter der Zukunft?“. In der eindrucksvollen, barocken Eingangshalle des Landgerichts Berlin begrüßte die Vizepräsidentin des Gerichts, Ludgera Selting, nicht weniger als 150 Teilnehmer – Anwälte, Richter, Programmierer, Legal Tech-Experten.

Technische Entwicklung lieber mitgestalten, als von ihr überrollt werden!

In ihrer Ansprache prognostizierte Ludgera Selting, dass Legal Tech vor der Justiz nicht Halt machen werde und zum Teil ja auch schon im Alltag integriert sei, zum Beispiel mit der Nutzung juristischer Datenbanken. Man beobachte aber eine immer weiter und schneller wachsende Zahl an Legal Tech Untlegaernehmen, die sich an Verbraucher richteten und die zunehmend auch den Beruf der Anwaltschaft veränderten. Bisher meist im Positiven, wie bei der Mandantenakquise, die es über verschiedene Portale erlaube, Mandate ortsunabhängig zu vergeben oder die Möglichkeiten, Mandanten einen leichteren Zugang zur Akte zu gewährten. Noch ersetzten die Angebote nicht die anwaltliche oder gar richterliche Tätigkeit. Jedoch seien die Legal Tech-Anbieter mit ihren Angeboten noch nicht am Ende der Entwicklung und man müsse genau beobachten, ob und in welchem Umfang ausgereifte Anwendungen zukünftig in der Lage seien, Fälle eigenständig zu bewerten oder gar Urteile zu formulieren.

Klage-Ebbe oder Klage-Flut? Was haben Anwaltschaft und Gerichte zu erwarten?

Der Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung in Berlin Dr. Dirk Behrendt führte in seinem Grußwort konkrete Legal Tech-Beispiele, wie Smart Contracts an, die heute schon in der Lage seien, Leasingfahrzeuge zu sperren, wenn die Raten nicht gezahlt würden. Oder Strafzettel, die online geprüft und bei Erfolgschancen durch das Programm beanstandet würden. Hieraus entstünde die Frage, ob diese Entwicklungen an den Gerichten zu mehr oder eben weniger Fällen führen werden. „Steht uns eine Klage-Ebbe oder eine Flut bevor?“. Behrendt begrüßte, dass die eingeladenen Rednerinnen und Redner das gesamte Legal Tech-Spektrum abbildeten von der Anwaltschaft, über die Justiz und den Verbraucherschutz bis zu Legal Tech-Startups. Die Frage, ob Legal Tech die richterliche Entscheidungshoheit ersetzen würde, beantwortete Behrendt für sich mit „Nein“. Jedoch werde sich auch die Justiz verändern. Beispielsweise würden Verkehrsunfälle eine geringere Rolle spielen, da das autonome Fahren die Abwicklung bei Streitigkeiten automatisieren werde. Wünschenswert wäre der Ausbau von Programmen und Tools, die richterliche Tätigkeiten unterstützen, wie es heute bereits Unterhaltsberechnungsprogramme täten. Darüber hinaus sei eine IT-gestützte Unterstützung bei der Urteilsfindung nur dann sinnvoll, wenn Richterinnen und Richter die Entscheidungen der Programme nachvollziehen, bearbeiten und damit kontrollieren könnten. Behrendt schloss mit dem Appell, Richterinnen und Richter sollten den laufenden Prozess begleiten und mitgestalten.

Markus Hartung moderierte und beruhigte die Anwesenden

Die Moderation übernahm Legal Tech-Experte Markus Hartung, der davor warnte, die Fähigkeiten von Legal Tech zu überschätzen und gleichzeitig die Auswirkung in der Zukunft zu unterschätzen. Bei der Frage, wie wahrscheinlich es sei, dass Anwälte oder Richter in der Zukunft durch einen Computer ersetzt würden, verwies er auf eine Oxford-Studie und die Möglichkeit, sich diese Frage auf einer Webseite der Süddeutschen Zeitung beantworten zu lassen. Diese Seite wirft aus, dass der Anwalt mit einer Wahrscheinlichkeit von 3,5 % und Richter immerhin mit einer Wahrscheinlichkeit von 40 % ersetzt werden würden. Hartung stellte für sich klar, dass sich keiner der Anwesenden Sorgen um seinen Job machen müsse. Nur gut, dass sich die Veranstaltung nicht an Steuerberater richtete, die mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 % ersetzt werden würden. Letztendlich ginge es darum, so Hartung, den Zugang zum Recht zu erleichtern.

Algos dürfen keine Richter werden!

Die folgenden vier Impulsreferate der Stakeholder eröffnete der Präsident des Kammergerichts Dr. Bernd Pickel mit der Sichtweise der Justiz. Pickel stellte die Frage, ob Algorithmen (kurz Algos) die besseren Richter sein könnten und ob man diesen vertrauen könnte. Er stellte klar, dass man sich aus Sicht der Justiz sehr gerne einen Teil der Arbeit abnehmen lassen würde, solange es um einfache Berechnungen ginge. Wenn es jedoch um Prozesse ginge, bei denen man abwägen müsse, käme das für ihn nicht in Frage. Auch wenn Menschen längst dem Scanner an der Supermarktkasse vertrauten und Schach-Computer selbst Großmeister besiegen könnten; wenn es darum ginge, dem Richter Entscheidungen abzunehmen, bliebe er skeptisch. Dennoch müsse man die eigene Haltung immer wieder überprüfen und die neuesten Erkenntnisse einbeziehen. So wäre die Skepsis gegenüber dem Lügendetektor als Hilfsmittel für die Justiz Stand heute berechtigt, was aber nicht ausschlösse, dass die Wissenschaft eines Tages überzeugende Geräte entwickeln könne.

Die Justiz müsse sich auch mit Untersuchungen auseinandersetzen, die aufdeckten, dass es bei der Strafzumessung bundesweit große Unterschiede gäbe. Es wäre schlecht nachvollziehbar, dass der Rauschgifthandel in NRW weniger hart bestraft werde als in Bayern. Wie könne Legal Tech zum Beispiel dazu beitragen, dass Strafen bundesweit gerechter und einheitlicher erteilt werden?
Als zweites Beispiel führte Pickel die Bemessung von Schmerzensgeldern an. Wünschenswert wäre eine Datenbank, die für alle gängigen Verletzungen Durchschnittswerte auf möglichst breiter und damit repräsentativer Basis abbildeten.

Pickels Fazit: Algos können und sollen die Justiz dabei unterstützen, besser zu werden. Insbesondere junge Richter würden profitieren. Jedoch sollten Algos keine Richter werden. Mögliche Fehler müssen bei der denkbaren Entscheidungsvorbereitung überprüfbar sein und auch überprüft werden.

Legal Tech, ­Anwalt weg?

Den Part aus Sicht der Anwaltschaft übernahm Rechtsanwalt Michael Grupp, der bildhaft reimte: „Legal Tech, ­Anwalt weg?“. Grupp trug kompromisslos vor und bündelte seine Erfahrung in fünf prägnanten Thesen:

These 1: „Heute kann nur marktfähig sein, was bereits gestern erforscht wurde.“ Grupp erinnerte, dass Legal Tech bereits in den 50er Jahren unter der Bezeichnung „Rechtsinformatik“ erforscht wurde und keine Erscheinung der letzten fünf Jahre sei.

These 2: „Die fehlende Adaption regelbasierter Systeme beruht nicht auf unzureichender technologischer Machbarkeit – die fehlende Adaption statistischer, selbstlernender Systeme beruht häufig auf unzureichender technologischer Machbarkeit.“ Laut Grupp sei Künstliche Intelligenz (KI) in der Anwaltschaft in absehbarer Zeit nicht umsetzbar. Für viele Anwendungsbereiche gäbe es schlichtweg keine erforderliche Datenbasis. Wann ist eine Haftung eng und wann ist sie weit? Es fehle in vielen Bereichen die Korrelation. Der Robo-Anwalt komme so schnell nicht, so Grupp.

These 3: „Anwaltliche digitale Angebote stehen im Wettbewerb zu einem digitalen Angebot.“ Hier müsse die Anwaltschaft rein und herausfinden, was sich Mandanten wünschen und wie sie sich verhalten.

These 4: „Was durch Software erledigt werden kann, wird auch durch Software erledigt, auch wenn das Ergebnis (zunächst) schlechter ist.“

These 5: „Legal Tech steht erst am Anfang – aber die Anwaltschaft steht gut da.“

Vorteil Legal Tech: „Kein Erfolg, keine Kosten für den Verbraucher“

Der dritte im Bunde der Stakeholder war Dr. Philipp Kadelbach, der als Gründer von Flightright die Perspektive der Startups einnahm. Es brauche eine Regulierung, so Kadelbach. Oft setzten Verbraucher ihr Recht nicht durch, weil sie unsicher in Bezug auf ihre Rechte und das Kostenrisiko seien. Traditionell helfen Anwälte, der Staat und der Verbraucherschutz. Damit würde aber nicht allen in allen Fällen geholfen. Musterfeststellungsklage und Legal Tech können hier helfen. Für Legal Tech spräche, dass die Verfahren hoch spezialisiert, digital und online verfügbar seien. Und vor allem, dass sie rein erfolgsorientiert seien. „Kein Erfolg, keine Kosten für den Verbraucher“.

Wie verbraucherfreundlich ist Legal Tech wirklich?

Die Reihe der Impulsreferate schloss Jutta Gurkmann von der Verbraucherzentrale mit der Frage „Wie verbraucherfreundlich ist Legal Tech wirklich?“. Gurkmann vertrat die Ansicht, Legal Tech sei eine Bereicherung, aber nicht das Allheilmittel. Sie beobachte eine stark ansteigende Zahl der Anbieter, die sie als einen Gewinn für Verbraucher sähe, da sie den Zugang zum Recht erleichterten. Es gäbe aber auch Beschwerden von Verbrauchern, wenn es um die Werbung bezüglich des Prozesskostenrisikos gehe. Zudem würden Fälle mit vermeintlich geringeren Erfolgsaussichten abgelehnt, die vielleicht doch Erfolg haben könnten. Darüber hinaus würden Schlichtungsstellen bemüht, die für den Verbraucher prinzipiell gratis sind, was sie aber dann nicht mehr sind, wenn das Legal Tech-Unternehmen dennoch die Provision kassiere.

KI-Urteile sollen nur differenziert eingesetzt werden

Auf die Impulsreferate folgte ein Vortrag von Prof. Dr. Katharina Zweig (Technische Universität Kaiserslautern) unter der Überschrift „Diskriminierende Algorithmen? Was geht, was geht nicht – Stand der Wissenschaft“. Professorin Zweig berichtet von einer greifbaren Angst davor, dass uns Maschinen richten. Dabei hätten wir es selbst in der Hand, da Algos von Menschen gefüttert und bewertet würden. Zudem würden wir bereits heute von Algos bewertet, z. B. durch die Schufa. Und Kfz-Versicherungen hätten längst gelernt, Menschen in Gruppen zu sortieren, was wir längt akzeptiert hätten. Wenn es jedoch darum ginge, Computerprogramme Profile erstellen zu lassen und  Prognosen über Straftäter und deren Rückfallquote abzugeben, wird es schwierig. Dann muss man sich fragen, wie hoch die Fehlerquote sein darf. Die jüngsten Erfahrungen aus den USA machten wenig Hoffnung, da die erzielten Ergebnisse durchweg als zu schlecht bewertet wurden. Es gäbe aber auch Beispiele die funktionierten, zum Beispiel bei der Hautkrebs-Erkennung. KI-Urteile haben je nach Bereich unterschiedliche Auswirkungen auf den Schaden bei Fehlurteilen. Je nach Schadensfall bedarf es unterschiedlicher Überwachungen und Kontrollen. Bis hin zu Bereichen, wo KI-Urteile moralisch nicht legitim sind.

Workshops brachten konkrete Ergebnissen und Forderungen

Am Nachmittag wurde es praktisch. In drei Workshops konnten die Teilnehmer eigene Ideen einbringen.

Der erste Workshop wurde vom Richter am Oberlandesgericht Celle Marco Rech (Deutscher Richterbund) geleitet und stand unter dem Motto „Robo Judge: „Wie kann Legal Tech bei der Arbeit der Richterinnen und Richter eingesetzt werden? Wo sind die Grenzen?“. Heraus kam, dass sich Richterinnen und Richter nicht nur eine Unterstützung bei einfachen Verfahren wünschten, sondern darüber hinaus, unter gewissen Bedingungen, Prognosenentscheidungen zum Beispiel bei Bewährungsfragen vorstellen könnten. Ideal wäre ein Legal Tech-Assistent, der eine breitere Tatsachengrundlage biete. Vermieden werden müsse, dass der Richter dem Robo-Assistenten zu schnell vertraue und nicht kontrollieren könne. Die Frage solle somit nicht lauten: „Wie kann ich das Urteilen ersetzen“, sondern: „Wie kann ich die Vorbereitung auf das Urteil vereinfachen?“. Dabei wäre wichtig, dass die Urteilsvorbereitung für den Richter transparent und nachvollziehbar sei.

Durchaus selbstkritisch wurde die Frage diskutiert, ob KI auch dazu führen könne, gerechter zu werden? Zu prüfen sei, wieviel Ungerechtigkeit durch Menschen entstehe.

Den zweiten Workshop leitete die Präsidentin des Amtsgerichts Wedding Dr. Svenja Schröder-Lomb unter dem Motto: „Ebbe oder Flut: Welche Auswirkungen haben Legal Tech-Startups auf die Arbeit der Gerichte?“. Aktuell verzeichne man, durch die Legal Tech-Unternehmen ausgelöst, neue Prozesse, die die Gerichte bisher nicht hatten. Erst nach der Klärung der Rechtslage, würden die Verfahren wieder abnehmen. Man ginge aber davon aus, dass zukünftig immer wieder neue Sachverhalte aufkommen, die die Gerichte immer wieder aufs Neue fordern werden. Offen blieb die Frage, wie die Gerichte damit umgehen sollten, da sie aktuell nicht darauf vorbereitet seien. Das läge an der guten, alten ZPO, die nicht auf dem Stand der heutigen Technik sei und auch nicht werden würde. Eine praktische Forderung seien vereinheitlichte Schriftsätze. Ferner sollten Legal Tech-Unternehmen Klagewellen ankündigen können, damit Gerichte sich vorbereiten können. Ein weiterer Wunsch sei der Aufbau gerichtsinterner Datenbanken. Die hierfür erforderlichen Strukturen müssten selbst geschaffen werden. Eine wichtige, aber keine einfache Aufgabe sei es, Richter zu überzeugen, die Tools auch zu nutzen! Interessant war auch die Forderung, die Justiz solle selbst Anfragen der Bürger fördern, die automatisiert behandelt werden könnten. Auch, um den Startups das Feld nicht allein zu überlassen. Das Beispiel Small Claims ginge bereits in diese Richtung. Weitere Modelle könnten folgen. Hierbei wäre es aber genauso wichtig, die Bürger über bestehende und neue Angebote ausreichend  zu informieren. Bestehende Projekte wie die Online-Beantragung des Kindergeldes würden aufgrund der geringen Bekanntheit unter der Bevölkerung zu wenig genutzt. Aus dem Plenum kamen aber auch kritische Stimmen: Die Justiz sollte erst einmal auf den aktuellen Stand der Technik kommen und die Kundenorientierung verbessern. Erst dann mache es Sinn, über Legal Tech nachzudenken.

Im dritten Workshop, geleitet von Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Duve, ging es um die Frage: „Welche Potentiale bestehen beim Zivilprozess?“ Die Teilnehmer kamen zu der Erkenntnis, dass das Potential riesengroß sei. Das läge daran, dass sich die Justiz noch auf der untersten digitalen Stufe befände. Global gesehen sei man noch ganz am Anfang und es wäre höchste Zeit, jetzt richtig loszulegen. Und dafür benötige man jetzt die passende Infrastruktur.

Es gibt eine Zukunft für eine menschliche Justiz dank digitaler Unterstützung!

Fazit: Das Symposium „Legal Tech und die Justiz“ war mit 150 Teilnehmern und dem breiten, inhaltlichen Spektrum ein voller Erfolg! Es hat gezeigt, dass sich weder Richter noch Anwälte Sorgen um ihre Zukunft machen müssen. Im Gegenteil: Legal Tech bietet vielfältige Möglichkeiten, die Arbeit zu vereinfachen und damit noch interessanter zu machen – und Verbrauchern den Zugang zum Recht zu erleichtern. Natürlich bedarf es einer differenzierten Analyse und viel Engagement, doch ist allein die Tatsache, dass dieses Symposium durchgeführt wurde und auf derart reges Interesse stieß, ein gutes Zeichen für eine digitale Zukunft der Rechtsprechung durch Richterinnen und Richter.

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Markus Weins ist Geschäftsführer des FFI-Verlags, das Unternehmen hinter legal-tech.de. Von 2008 bis 2014 leitete Markus Weins den Bereich Marketing und Vertrieb des Deutschen Anwaltverlags. 2015 gründete er den FFI-Verlag mit Sitz in Hürth bei Köln.
freie-fachinformationen.de ffi-verlag.de.

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