Legal Tech in der Zivilgerichtsbarkeit

„Legal Tech in der Zivilgerichtsbarkeit – Chancen und Herausforderungen“
Ein Tagungsbericht – Teil 2

Von Dr. Christian Schlicht Dr. Simon Heetkamp

Öffentliche Übertragung von Verhandlungen

Den zweiten Tag der Online-Tagung zu „Legal Tech in der Zivilgerichtsbarkeit“ eröffneten Frau von Rosenstiel und Sina Dörr gemeinsam mit Dr. Cord Brügmann, Rechtsanwalt, Politikberater, Journalist und Gründer des bekannten Jura-Podcasts „Rechtsgespräch“. Vor der Paneldiskussion gab Frau Prof. Dr. Anne Paschke einen Impulsvortrag über die „Transparenz im digitalen Rechtsstaat“. Frau Prof. Dr. Paschke begann mit einem Blick nach Amerika auf das Verfahren Jonny Depp gegen Amber Heard. Die umfassende Berichterstattung über das Verfahren habe dabei nicht der Schaffung von Rechtsfrieden, sondern vorwiegend der Unterhaltung gedient. Aus derartigen Fällen schlössen Kritiker leider, dass die digitale Übertragung von Gerichtsverhandlungen einem „Internetpranger mittelalterlichen Ausmaßes“ gleichkäme. Tatsächlich aber würde die Digitalisierung zu effizienteren Verfahren, einem schnelleren Zugang zum Recht, einer transparenteren Kommunikation, einer besseren Inklusion Seh- und Hörbeeinträchtigter, einer Optimierung der Zusammenarbeit mit anderen Gerichten und einer Erhöhung der Arbeitsqualität der Richterinnen und Richter führen. Der EGMR, der EuGH, das Bundesverfassungsgericht und der BGH würden Verhandlungen bzw. jedenfalls Urteilsverkündungen inzwischen online übertragen. Frau Prof. Dr. Paschke stellte die Frage, ob nicht aus der inzwischen vorhandenen Möglichkeit der digitalen Gerichtsöffentlichkeit auch die verfassungsrechtliche Pflicht der Gerichte herzuleiten sei, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.

Die Ausführungen von Frau Prof. Dr. Paschke lösten im Chat eine sehr kontroverse Diskussion aus. Kritisiert wurde insbesondere, es drohe eine Fixierung auf Darstellungsform und -weise. Die digitale Öffentlichkeit konterkariere die Unbefangenheit der Zeuginnen und Zeugen. Wie werde sichergestellt, dass der Zeuge sich nicht vor dem Saal noch die Verhandlung anschaue? Auch wurde der Schutz der Parteien und des Gerichtspersonals vor Videomitschnitten und der Gefahr der diversen Diffamierungsmöglichkeiten geschützt? Wie könne gewährleistet werden, dass Geschäftsgeheimnisse nicht in einer breiten und unbestimmten Öffentlichkeit bekannt würden?

Hürden auf dem Weg zur transparenten Justiz

Den Anfang der Podiumsdiskussion machte Dr. Anna K. Bernzen, Akademische Rätin an der Universität Bonn, die den Blick auf die gerichtliche Öffentlichkeitsarbeit als solche weitete. Sie stellte die Frage, ob der Satz „Der Richter spricht durch sein Urteil“ noch uneingeschränkt gelte. Denn es würden nur etwa 1 Prozent aller instanzgerichtlichen Entscheidungen der letzten 50 Jahre veröffentlicht (siehe dazu Hamann, JZ 2021, 656, Der blinde Fleck der deutschen Rechtswissenschaft – Zur digitalen Verfügbarkeit instanzgerichtlicher Rechtsprechung). Ungeachtet dessen seien die Entscheidungen im Original für Laien nicht einzuordnen. Man müsse sich die Frage stellen, ob – aus Verfassungsgründen – eine erweiterte Information und Berichterstattung erforderlich sei. Für die Bundesregierung gelte nach der Rechtsprechung des BVerfG, dass den Bürgerinnen und Bürgern ihre Rechte und Pflichten erklärt und sie in die Lage versetzt werden müssen, das Handeln der Regierung nachvollziehen zu können. Dies könne auf die Justiz übertragen werden. Hieraus lasse sich eine Pflicht zur Öffentlichkeitsarbeit durch die Justiz ableiten.

Die Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle Stefanie Otte führte die bisherigen Überlegungen zusammen und erklärte, dass die Transparenz gerichtlichen Handelns nicht nur ein hohes Gut sei, sondern verbessert werden müsse. Ab hier müsse aber differenziert werden: Kern des Problems sei nicht, dass die Justiz rückschrittig sei, sondern die personelle und finanzielle Ausstattung für die geforderten Öffentlichkeitsmaßnahmen fehlten: Für derartige Pressearbeit seien mindestens zwei Richterstellen erforderlich. Auch müssten die Justizverwaltungen und Ministerien Richterinnen und Richter aktiv bei Reformen beteiligen. Gerichte würden gerne mehr machen, aber nicht jedes Gericht könne neue Ideen als Erster pilotieren oder an bestimmten Projekten teilnehmen. Wegen ihrer Geschäftsgeheimnisse scheuten heute ohnehin schon viele Akteure den Gang zu den öffentlichen Gerichten. Hier sollte eher mehr Flexibilität in der ZPO möglich sein, um die Geschäftsgeheimnisse zu hüten. Frau Otte schlug vor, in kleineren Projekten eine digitale Gerichtsöffentlichkeit zu testen, etwa gemeinsam mit den Universitäten. Transparenz müsse dabei sowohl im Analogen als auch im Digitalen gedacht werden.

In der Folge wurden aufgrund der im Chat geäußerten Bedenken Möglichkeiten erörtert, wie Missbrauch und Persönlichkeitsverletzungen bei der digitalen Übertragung von Gerichtsverfahren verhindert werden könnten. Frau Prof. Dr. Paschke gab zu bedenken, dass eine Beschränkung z. B. durch eine Anmeldung mittels Personalausweis, Geolokalisierung oder zahlenmäßig möglich wäre. Auch das Mitschneiden der Verhandlung sei technisch einschränkbar, etwa durch das „Yellow Light“-Verfahren oder digitale Wasserzeichen, die ein Abfilmen und/oder einen Upload verhinderten. Frau Otte griff dies auf und regte auch diesbezüglich Pilotprojekte an. Dr. Brügmann merkte an, dass der Koalitionsvertrag Reallabore ausdrücklich möglich mache, dies auch in hochriskanten und -regulierten Bereichen. Hier könnte die Justiz entsprechend verfahren.

Frau Dr. Bernzen ging auf das befürchtete grandstanding im Sinne einer effekthascherischen Selbstdarstellung vor Gericht ein: Etwa in England gäbe es aus diesem Grund Kameras an festen Orten und aus bewusst entfernter, neutraler Perspektive, um diesen Effekt zu vermeiden; das Geschehen werde dadurch neutral dargestellt. Die Erfahrungen in England seien durchweg positiv (z. B. beim Supreme Court). Für die geäußerten Bedenken fehle der empirische Beweis.

Dr. Brügmann verwies auf eine Studie, wonach das Vertrauen in die Justiz und den Rechtsstaat grundsätzlich sinke, jedoch bei den Personen messbar höher sei, die mit Gerichten und Anwältinnen und Anwälten aufgrund eines eigenen Prozesses in Kontakt gekommen seien. Auch vor diesem Hintergrund könne die Urteilsveröffentlichung und Öffentlichkeitsarbeit der Justiz positive Effekte haben

Im Folgenden diskutierten die Panelisten die Frage der Strukturierung von Entscheidungen zu Auswertungszwecken. Frau Otte sprach sich dagegen aus. Das Gesetz und die dort enthaltenen Anspruchsgrundlagen gäben die Strukturierung vor. Die Justiz habe nicht die Aufgabe, die Urteile für Big-Data-Analysten zu strukturieren, sondern anhand des Gesetzes für die Rechtssuchenden.

Frau Prof. Dr. Paschke schloss die Diskussion mit der richtigen Feststellung, dass erfreulicherweise bezüglich der Digitalisierung der Gerichtsöffentlichkeit und der Veröffentlichung von Entscheidungen nicht über das „Ob“, sondern über das „Wie“ diskutiert werde. Für Interessierte wird diese Debatte im Forum digitale richterschaft am 06.07.2022 mit Frau Dr. Bernzen fortgesetzt (digitale-richterschaft.de/bernzen/).

Videoverhandlungen in der Praxis

Videoverhandlungen
Abfrage unter den Anwesenden zur Erfahrung mit Videoverhandlungen

Am Nachmittag des zweiten Tages beleuchteten RinLG Gesine Irskens, derzeit Referentin am Ministerium der Justiz Niedersachsen, und Dr. Klaus Harnack, Rechts- und Kognitionswissenschaftler, Mediator, Berater und Trainer, die „Videoverhandlung und digitale Beweisaufnahme im Zivilprozess: Erfahrungen, Chancen, Herausforderungen“.

Frau Irskens führte sehr fundiert in die rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen der Videoverhandlung ein. Neben der Zeugenvernehmung per Videotechnik ging es auch um den digitalen Sachverständigen- und den Tele-Augenscheinsbeweis sowie eine Beweiserhebung durch elektronische Dokumente. Die Kolleginnen und Kollegen hatten die Gelegenheit, ad hoc an mehreren Umfragen teilzunehmen. Zunächst wurden die Teilnehmenden befragt, ob sie bereits Videoverhandlungen nach § 128a Abs. 1, 2 ZPO durchgeführt und welche Erfahrungen sie gemacht hätten. Auch dieser Abschnitt wurde durch zahlreiche Anekdoten, die im Chat geteilt wurden, begleitet. Auch wurde „abgefragt“, welche Gründe für die Ablehnung einer Bild- und Tonübertragung zulässig seien. Auch hier wurden weitergehende Erfahrungen aus dem Kollegenkreis sehr rege im Chat diskutiert. Auffällig war, dass die Auswertung deutlich positiver ausfiel als ähnliche Abfragen, die auch von der Referentin vergleichsweise heranzogen wurden.

Im Folgenden wurden insbesondere die Fragen erörtert, ob Aussagepersonen bei einer Videoverhandlung häufiger lügen würden, die Wahrheit schlechter erkannt werden könne, eine Gefahr der Manipulation durch Einflussnahme real sei und der Einsatz von Videokonferenztechnik schlechter für eine Einigung zwischen den Parteien sei. An dieser Stelle erläuterte Herr Dr. Harnack, dass es für die Wahrheitsfindung sogar förderlicher sein könnte, wenn Zeug:innen oder Parteien sich bei einer Videoverhandlung selbst sähen. Durch den Blick ins „Spiegelbild“ würde das eigene Norm- und Moralsystem angesprochen, wenn das Gericht auf die Wahrheitspflicht hinweise. Hier zog Herr Dr. Harnack den Vergleich zu Studien, bei denen Personen sich weniger vom Nachtischbüfett nähmen, wenn hinter dem Büfett ein Spiegel aufgebaut sei.

Sensibilisierung für psychologische Effekte einer Videoverhandlung

Herr Dr. Harnack begann seinen Vortrag mit der Frage, wie neue Arbeitsweisen – und hierzu zähle auch die Videoverhandlung – erfolgreich implementiert werden könnten. Nach dem MAYA-Prinzip („Most advanced, yet accepted“) müsse der Kern eines Produkts verstanden werden und dürfe dann nur so weit abgewandelt werden, dass es gerade noch akzeptiert werde. Als Negativbeispiel aus der Justiz nannte Herr Harnack die E-Akte. Dort sei es bisher nicht gelungen, nach dem MAYA-Prinzip zu handeln, sondern bloß die Papierakte zu „elektrifizieren“.

Besonders erhellend waren die Ausführungen zu den psychologischen Vorzügen einer Videoverhandlung. Hier könnten sich Richterinnen und Richter die psychologische Distanz zunutze machen. Bei weiter in der Zukunft liegenden Ereignissen würden Menschen sich psychologisch eher die Wünschbarkeit als die Machbarkeit fokussieren. Wer sich vorstellen soll, morgen in den Urlaub zu fahren, denke über die Logistik nach, wer sich über den Urlaub im kommenden Jahr Gedanken machen solle, denke an schöne Urlaubsziele. Dies lasse ich auch auf die räumliche Distanz übertragen. So hätten Studien ergeben, dass Menschen, die aus unterschiedlichen Städten miteinander verhandelten, zu besseren und konstruktiveren Lösungen gefunden hätten, weil der Wunsch nach einer Lösung stärker als die Machbarkeit gewesen sei.

Psychologische Komponenten
Dr. Harnack zu den psychologischen Vorzügen einer Videoverhandlung

Erhellend war auch die Sensibilisierung für psychologische Effekte und „Good Practice“-Beispiele. In Videokonferenzen sei es besonders wichtig, sich Zeit zum „Aufwärmen“ zu nehmen, transparent zu agieren und Pausen einzulegen. Denn die Verständnisüberschätzung bezüglich des Gegenübers, zu der Menschen tendieren, sei bei virtuellen Treffen noch stärker. Besonders wichtig sei auch, sich psychologisch distanzieren zu können und seine Selbstwahrnehmung zu überprüfen. So entstehe in Videoverhandlung eine Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen in der Weise, dass man sich selbst kritischer sehe und das Gegenüber als fähiger einstufe. Auch lasse man sich z. B. durch Hintergründe stark beeinflussen. Das Gehirn suche den Hintergrund eines Teilnehmers gezielt nach Objekten ab, die das eigene Vorurteil bestätigten – eine Bücherwand weise etwa auf die vermeintliche (?) Belesenheit und Intellektualität einer Person hin. Hier plädierte Herr Dr. Harnack für einen standardisierten neutralen Hintergrund bei Videoverhandlungen. Der Vortrag wurde abgerundet durch heutige und künftige Möglichkeiten der Erweiterung des virtuellen Raums. So könnten schon heute haptische Elemente in Verhandlungen eingebaut werden. Künftig könne dies auch virtuell durch den Einsatz von 3D-Brillen oder Virtual Reality-Suits ausgestaltet werden.

Künstliche Intelligenz im Recht

Codefy, Tianyu Yuan
Tianyu Yuan zur Nutzung von Codefy bei umfrangreichen Verfahren

Den Abschluss des zweiten Tages machten Tianyu Yuan, Rechtsanwalt, Mitgründer und Geschäftsführer der Codefy GmbH, und Till Elborg, Gründer und Mitglied der Geschäftsleitung SINC GmbH. Sie sprachen zu „Künstlicher Intelligenz im Recht – neue Tools und was sie könn(t)en“. Herr Yuan stellte dazu seine Software „Codefy“ vor, die es insbesondere ermögliche, umfangreiche Verfahren zu beherrschen und Massenklagen zu bewältigen. Mit „Codefy“ seien eine aktenübergreifende Instant-Suche, eine inhaltliche Aktenstrukturierung und die Erzeugung eines automatisierten Aktenspiegels durch einen Relationsassistenten möglich. Dieser erkenne etwa alle Anträge in einer Akte und stelle diese hervorgehoben dar. Auch der Streit der Parteien über Fragen der Mangelhaftigkeit oder Verwirkung würden automatisch gegenübergestellt. Sein Vortrag schloss mit einer kurzen Präsentation der Software. Herr Elborg führte sodann aus, dass niemand ernsthaft an der Entwicklung eines Robo Judges arbeiten würde. Die derzeit unüberwindbaren Hürden machte er anhand originärer und erworbener Bias-Effekte, dem Problem „weiterlernender“ Systeme und den hohen Kosten referenztauglich annotierter fachlicher Korpora zur Messung der algorithmischen Güte deutlich. Es gelte, die Systeme weiter zu optimieren, um den Anforderungen aus der juristischen Praxis gerecht zu werden. Hierzu zählten etwa die Extraktion von Metadaten, die Strukturierung und automatische Aktengliederung, die Dokumententrennung, automatische Verschlagwortung moderne Textanalyse, Umwandlung von Audiodateien in Text, maschinelle Übersetzungen sowie die Analyse digitaler Bilder.

Fazit

Insgesamt war diese hochkarätige Veranstaltung überaus gelungen und trotz des zweitägigen Online-Formats trat zu keinem Zeitpunkt der „Zoom-Fatigue-Effekt“ ein. Es ist zu hoffen, dass die Impulse genutzt werden, um konkrete Projekte und Reallabore ins Leben zu rufen. Den Organisatorinnen und Organisatoren gilt ein herzlicher Dank, verbunden mit der Bitte, eine solche Tagung aufgrund der exponentiellen Entwicklung der Digitalisierung nicht nur einmal im Jahr anzubieten.

Bilder: Dr. Christian Schlicht und Dr. Simon J. Heetkamp
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Dr. Christian Schlicht ist Richter am Landgericht Köln. Er ist stellvertretender Vorsitzender einer Versicherungskammer und Personaldezernent für die Proberichter:innen. Zuvor war er als IT-Dezernent insbesondere mit der Einführung der E-Akte befasst. Er ist Mitgründer der "digitalen richterschaft".

Weitere Beiträge

Richter Dr. Simon J. Heetkamp promovierte nach seinem Studium und Referendariat in Münster, Düsseldorf, Ankara, Den Haag und Tokyo zum Thema der Online Dispute Resolution. Anschließend war er mehrere Jahre in einer großen deutschen Wirtschaftskanzlei als Rechtsanwalt im Bereich Streitbeilegung tätig, bevor er in den richterlichen Dienst eintrat. Er hat kürzlich das Forum „digitale-richterschaft.de“ mitgegründet, das zum Austausch zu Digitalisierungsthemen in der Justiz dienen soll.

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